storm from the east


Bild: Kai
Bild: Kai

Im Frühling 1997 haben wir das Abitur in der Tasche und die Jahrgangsgemeinschaft macht sich auf zu neuen Herausforderungen. Für viele von uns steht noch Wehrdienst oder Zivi an. Für mich ist klar: ich werde den sogenannten Wehrersatzdienst anstreben. Meine damalige politische und gesellschaftliche Disposition klammert den Wehrdienst kategorisch aus. Wie ich darüber heute denke, kann ich Euch gern mal persönlich erzählen. Eines sei mir nur hier schon erlaubt zu sagen: ich hatte eine lehrreiche und tolle Zivildienstzeit und bin dankbar für die Zeit. Aus ganz verschiedenen Gründen.

 

Die sogenannte Verweigerung und das Antanzen zur Musterung im Hochhausgebäude in Bremen Ciddi - ganz in Bahnhofsnähe - erledige ich anständig, mit Haltung und doch auf eine gewisse Art im Autopilotmodus. Ich erinnere immerhin noch ziemlich gut, wie ich zusammen mit weiteren Verweigerern in der oberen Etage des Hochhauses in der Falkenstraße beim Umkleiden stehe und wir uns alle einen Riesenspaß daraus machen. Galgenhumor. Ein bischen das Flucht-nach-vorn und Jetzt-erst-recht-Ding. Ich bestehe diese Prüfung und wenige Wochen später geht die Verweigerung durch. Ich darf Zivildienst machen.

Durch eine ehemalige Mitschülerin lande ich beim Pritätischen Wohlfahrtsverband in der Filiale in Blumenthal. Sie wird von der Mutter der Mitschülerin (Hallo Alice!) geleitet und für mich beginnt eine unheimlich lockere Zeit mit neuen Aufgaben, langer Leine, viel Vertrauen und neuen, wichtigen zwischenmenschlichen Begegnungen. In der Dienstzeit lerne ich alte Menschen kennen, unterstütze sie in ihrem Alltag und erhalte einen Einblick in ihr Leben. Einkäufe, Arztgänge, Fahrten zum Blindenverein ins Viertel und, und, und. Und viele Gespräche halt!

Neben der Musikwerdung eine Zeit mit viel Input.

Da die Dienstzeiten, sagen wir mal, wirklich überaus flexibel waren, behielt ich viel Zeit für die Musik. Privatunterricht in Gehörbildung und Theorie, das Selbststudium am Bass, dann wieder geführter Bassunterricht (Hallo Michael!), Bands, Proben und und und.

 

Tja, und dann letztlich das, was mich hier von Zeit zu Zeit zum Schreiben bringt: Die Erweiterung des musikalischen Horizonts durch Einflüsse von Musikern, Freunden und das Rumtreiben in Kneipen, Bars, Diskos und auf Konzerten.

 

Ende der 90er stand die elektronische Musik im Party- und Nachtleben hoch im Kurs. Während ein paar Bekannte sich auf entsprechenden Parties und Veranstaltungen umtaten, machte ich Musik und hockte im Proberaum. Es blieb trotzdem nicht aus, dass der Einfluss von Drum`n Bass in mein Blickfeld rückte (Danke Marc und Matze!). Vieles von dem, was ich zu hören bekam, war mir zu hart, zu mechanisch und auf eine gewisse Art zu schnell und zappelig, so dass ich schnell zu folgendem Schluß kam: wenn Du der ganzen Sache 'ne Chance geben willst, mein Lieber, dann brauchst Du die weichere Variante. Sonst bleibt Dir dieser Kosmos verborgen.

Ich habe sie immer noch, die Kopfhörer von damals. In der letzten Zeit habe ich sie zum Auflegen verwendet. Früher waren sie meine nächtlichen Lauschtore.
Ich habe sie immer noch, die Kopfhörer von damals. In der letzten Zeit habe ich sie zum Auflegen verwendet. Früher waren sie meine nächtlichen Lauschtore.

Ich weiß nicht mehr genau, ob es in der Pausenzeit während einer Fahrt zum Blindenverein war oder doch das Schlendern durch Fashion- und Musikläden in der Freizeit. Auf jeden Fall gab es damals in der Knochenhauerstraße, gegenüber der Papenstrasse "GO Bäng!".  Das Verrückte ist, dass es den Laden scheinbar immer noch in der selben Strasse gibt. Sehe ich just bei der Recherche zum Blogartikel. Scheint nur ein paar Häuser weiter gezogen.

Damals jedenfalls war das eines der Stöbermekkas für mich. Auf mehreren Etagen konntest Du zwischen Fashion, Neuware wie 2nd Hand, Platten und musikalischem Zubehör stöbern. Es gab DJ-Zubehör, Konzertticktes usw.

Ich habe da unter anderem zwei riesige Poster von Miles und Coltrane gekauft. Es gibt sie beide noch. Eine davon hängt im Proberaum. Trane hängt in meinem Musikraum zu Hause.

 

Im Untergeschoss bei Go Bäng war es, als ich auf "Storm from the East" stieß. Besser gesagt: gestossen wurde. Ich stand am Tresen, ein bischen betreten und unbeholfen, und versuchte dem Verkäufer zu erklären, was ich an Stil möchte und was nicht so. Ich war Musiker und hatte keine Ahnung. Tolle Mischung. :)

 

"Mellow" war der Begriff, der mir bei der Unterhaltung über die Ladentheke in Erinnerung geblieben ist. "Wenn Du es eher entspannter willst, dann nimm diesen Sampler. Der ist mehr so Mellow." Me-llow. Aha. Aber recht hat er behalten und ich bin ihm bis heute dankbar für seine Empfehlung.

 

Es folgten zahllose Nächte im Jugendzimmer zu Hause. Nächte, in denen ich mit meinem Sonykopfhörer die Platte rauf und runter, hin und her hörte. Teilweise chillend im Schaukelstuhl, teilweise liegend im Bett zum Einschlafen, oft gern auch aus dem Fenster in die Nacht träumend.

Im Zuge des Wieder-Herntastens an die Musik der Platte habe ich es vor einigen Tagen erneut probiert. Kopfhörer auf, Bett, Einschlafsituation. Die Musik funktioniert immer noch prima. Gail, ey!

 

Die Musik des Samplers trieb mich damals durch die Nächte. Die sphärischen Klanglandschaften erzeugten eine Weite vor meinem inneren Auge und angenehme Leere in mir. Ich verlor mich darin und kam ziemlich gut runter mit der Musik.

 

"Razzmatazz" beginnt nur mit dem Beat. Sphärische Flächen steigen ein und dann erst setzt der ostinate Bass ein und groovt Dich durch den Track. Streicher und Rhodessounds tragen den Beat entspannt voran und es fließt und fließt und fließt.

In "Cruising Detroit" hörst Du Dich mit einem gut einminütigen introähnlichen Einstieg ein. Das erzeugt eine angenehme Art der Zerstreuung bei mir.

Bei "East Coast Vibes" fangen mich das mit Tremolo wabernde Rhodes, die Vibes und markigen Vocalshouts ein. Treibend und doch ziemlich entspannt. Was für’ne gaile Mischung!

"Language of Love" hat sich in meine Festplatte der Bremen-Norder Nächte dauerhaft eingebrannt. Mit diesem Track verbinde ich eben genau diese zahllosen, langen Nächte. Wenn die ersten Sekunden erklingen, sind die Erinnerungen wieder da. Blicke durch's Fenster in die Nacht, Kopfhörer auf den Ohren, Gedanken ziehen ihre Runden, umkreisen mich und verflüchtigen sich mit der Musik im Nirgendwo.

Ich will da jetzt auch nicht all zu viel hineininterpretieren. Nur soviel: diese Art Musik half mir damals, mir über viele Dinge klarer zu werden, mit mir ins Reine zu kommen.

In diesem Jahr der Übergangsphase von Abi zum Studium passierte soviel in Sachen Freundschaft, Partnerschaft, Musik und diesem Ding mit dem sich finden und fertig werden wollen... und gleichzeitig musste ich das Studium betreffend noch einiges voreinander kriegen. Einschreiben, Wohnung finden, anmelden, ummelden, loslassen und so Zeug.

"Storm from the East" trieb mich voran und die Gedanken in gelenkte Bahnen. 

 

"Nrg and Conciousness" ist dabei nicht nur vom Titel der programmatischste Track. Die schwebenden und kreisenden Strings, der wabernde Bass im Hintergrund und die Synth-Pattern hatten damals wie heute den Effekt der Sogwirkung, wie die ultraschnelle Fahrt durch einen Tunnel. Wahnsinnige Geschwindigkeit und dabei trotzdem sicher und gefahrlos.

 

Und was hat mir das nun alles als Bassist eigentlich gebracht?

Die oftmals ostinaten Bässe, der schnelle, treibende Beat mit dem gleichzeitig erzeugten Gefühl der schwebenden Getragenheit sind so'ne Verbindung, die ich damals begann auf mein Bassspiel zu übertragen. So schnell die Beats auch sind, ich spüre beim Hören von Drum’n Bass oft so'ne Pendelbewegung beim Verinnerlichen dieser Musik. Das ging sich auch ganz gut auf den Bass an. Bis heute!

Die ostinaten Basslines hatte ich bereits durch Bootsy Collins bei James Brown und Maceo kennengelernt.

Bei "Storm from the East" hatte ich den elektronischen Twist dabei und erfuhr, dass es offenbar keine Grenzen beim Erleben und Übertragen von Gefühlen in der Musik gab. 

Für mich als Rock- und Jazzhörer waren die Ausflüge in den Drum'n Bass dann tatsächlich 'ne zusätzliche Offenbarung, was das offnen der musikalischen Grenzen in Kopf&Seele angeht.

 

Heute Abend, wenn es wieder dunkel wird und ich mich hinlege, dann habe ich wieder die Kopfhörer auf und höre den Sturm aus dem Osten (Englands).



Wenn ich das richtig einschätze, kommen da in den nächsten Blogbeiträgen noch die einen oder anderen elektronischen Einflüsse in Albumform an die Reihe. Der Gedanke daran fühlt sich gut an. Es mag an den guten Erinnerungen dieser Tage liegen!


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